Aufräumen unter Wasser 

Das Rote Meer vor Jordanien ist ein Tauchparadies, doch immer mehr Plastikmüll bedroht das sensible Ökosystem. Zwei junge Menschen kämpfen dagegen an.

Bilder: John Goodwin

Als die Taucher den Müll aus dem Roten Meer sortieren, halten sie plötzlich inne. Eine Getränkedose zuckt, bewegt sich. Dann wölbt sich ein junger Oktopus aus dem Inneren. Sein weicher Körper ist umgeben von scharfen Kanten aus Aluminium. Behutsam bringen die Taucher den Oktopus zurück ins Wasser, lassen ihn davonschwimmen.

Rund zwei Jahre ist das her. Doch Seif Al Madanat, 36, und Beisan Al Sharif, 33, lässt dieser Moment bis heute nicht los. Normalerweise finden Oktopusse in Muschelschalen oder leeren Schneckenhäusern Unterschlupf. Dieser jedoch hatte sich bereits an seine neue Lebenswelt angepasst und den Müll als Teil davon akzeptiert. Für Al Madanat und Al Sharif war es ein Schlüsselerlebnis. „Der Oktopus hat uns noch einmal vor Augen geführt, wie wichtig es ist, die Meere sauber zu halten“, sagen sie.

Zu zweit hatten sie damit angefangen, bei jedem ihrer Tauchgänge vor der jordanischen Küstenstadt Akaba Müll zu sammeln. Warum, hatten sie sich irgendwann gefragt, laden wir nicht noch mehr Freiwillige dazu ein? So entstand die Initiative „Project Sea“, die erste ihrer Art im Nahen Osten. Was mit der Hobbytaucherin und dem Hobbytaucher begann, ist inzwischen zu einer internationalen Bewegung geworden: Mehr als 150 Menschen aus beinahe 40 Ländern haben bereits bei den „Clean Up“-Aktionen mitgemacht. Gemeinsam haben sie mehr als fünf Tonnen Abfall aus dem Roten Meer geholt. Mit jedem Flossenschlag kämpfen sie gegen die Müllflut, die Ozeane und Meere weltweit unaufhörlich überschwemmt.

Pro Minute gelangt nach Angaben von Unicef ein Lastwagen voller Plastik in die Ozeane. Jährlich kommen so schätzungsweise zehn Millionen Tonnen zusammen. Einige Studien gehen sogar von deutlich mehr aus. Über Flüsse, Abwasser oder den Landweg gelangt falsch entsorgter Abfall in die Meere. In Jordanien kommt ein weiteres Problem hinzu: Ein Recyclingsystem und Mülltrennung wie in Deutschland gibt es in dem Wüstenland nicht. Alles landet in einer Tonne. Oder aber im Roten Meer. Wie soll man dagegen ankommen? Al Sharif ist überzeugt: „Jeder noch so kleine Schritt kann zu einer großen Veränderung beitragen.“

An einem warmen Morgen in Akaba brechen die Müllsammler:innen zu ihrem nächsten Einsatz auf. Um zehn Uhr morgens verlässt ihre Yacht den Hafen von Akaba. Ihr Einsatzgebiet liegt diesmal im Unterwasser-Militärmuseum, einem der beliebtesten Besuchermagneten Akabas.

Vor einigen Jahren haben die Behörden Jordaniens rund zwanzig Relikte vor der Küste versenkt, darunter einen Panzer, einen Krankenwagen und einen Militärkran. Die neuen Attraktionen sollten Unterwasser-Touristen anziehen – und so die natürlichen Riffe im Golf von Akaba entlasten. Der Plan ging auf, zumindest für den Tourismussektor. Taucher:innen aus aller Welt erkunden die Kriegsfahrzeuge unter Wasser, Schnorchler;innen werfen einige Meter über ihnen einen Blick darauf. Und wer das nicht mag, kann die Exponate bequem vom Glasboot aus bestaunen. Die hohe Sichtweite im Roten Meer macht es möglich.

Al Sharif ist sich sicher, dass sie am Einsatzort alle Hände voll zu tun haben werden. Das liege vor allem daran, dass das Museum nicht weit von der Küste entfernt sei. „Etwa 80 Prozent des Mülls, den wir aufsammeln, wird von den Stränden angespült“, sagt Al Sharif.

Am Hauptdeck bereitet die Crew jetzt die Tauchausrüstung vor. Man hört Sauerstoffflaschen zischen und den Motor dröhnen. Ein Stockwerk darüber sitzen Al Madanat und Al Sharif und schwören die 22 Freiwilligen – mehr als die Hälfte davon Frauen – auf die nächste Clean Up-Aktion ein. 30 Minuten bleibt ihnen unter Wasser, zum Müllsammeln wird jeder Taucher und jede Taucherin mit einem Stoffbeutel ausgerüstet. Handschuhe sollen sie vor scharfen Gegenständen schützen. Die wichtigste Regel: Alles, was lebt, bleibt unberührt im Wasser.

Die Stimmung an Bord ist energiegeladen und warm; von der „Project Sea“-Familie ist immer wieder die Rede. Auch drei Kinder streifen sich nach dem Briefing ihre Neoprenanzüge über. Mohammed, mit zwölf Jahren diesmal der jüngste Teilnehmer, ist gemeinsam mit seinen Eltern angereist. Genau das sei es, sagt Al Sharif, was sie von Anfang an erreichen wollten: eine Gemeinschaft für alle schaffen, die das Meer lieben und schützen wollen. Unabhängig von Alter und Herkunft. „Was ,Project Sea’ so besonders macht, ist unser starker Zusammenhalt“, sagt sie.

Eigentlich treibt Al Sharif hauptberuflich die Logistikfirma ihrer Familie voran, Al Madanat ist Pharmazeutiker. „,Project Sea’ spannt uns aber immer mehr ein, die Bewegung wächst und wächst“, sagen die beiden. Sie leben in der Hauptstadt Amman, für ihre Tauchaktionen reisen sie regelmäßig nach Akaba am Roten Meer. Etwa vier Stunden brauchen sie mit dem Auto, bis sie die einzige Küstenstadt ihres Heimatlandes erreichen. Gerade mal 27 Kilometer misst der Küstenstreifen Jordaniens. Dennoch leben hier mehr als 150 Korallenarten und 500 Fischarten. Einige von ihnen sind endemisch, man findet sie also nirgendwo sonst auf der Welt.


Ins Rampenlicht der Forschung gerückt sind die Riffe allerdings wegen einer anderen Besonderheit: Studien zeigen, dass die Korallen im Golf von Akaba besonders hitzebeständig sind. Anders ausgedrückt: Trotz Klimawandel könnten sie ein weiteres Jahrhundert überleben. Anders als viele andere Riffe rund um die Welt, zum Beispiel das Great Barrier Reef vor Australien. Ein internationales Forscherteam ist derzeit auf Mission im Roten Meer, um das Geheimnis der resilienten Korallen zu entschlüsseln. All das treibt die Clean Up-Taucher:innen umso mehr an. „Die Korallenriffe im Golf von Akaba sind einfach einzigartig“, sagt Al Madanat. „Sie sind ein Schlüsselelement unserer Umwelt.“ Umso wichtiger sei es, sie zu schützen.

Denn auch in Akaba ist die Unterwasserwelt Gefahren ausgesetzt. Die Bevölkerung und die Infrastruktur der Küstenregion sind in den vergangenen Jahren rasant gewachsen. Und mit ihnen die Menge an Plastikmüll, die im Roten Meer landet. Für das sensible Ökosystem kann das verheerende Folgen haben. Der Plastikmüll kann das Gewebe der Korallen verletzen und Infektionen verursachen. Zudem tragen die Fremdkörper mitunter Bakterien mit sich, die Korallen krank machen können. Die möglichen Folgen reichen von beeinträchtigtem Wachstum bis hin zum Absterben einzelner Glieder.

Gegen Mittag ankert die Yacht. Plötzlich geht alles ganz schnell: Die letzten Sicherheitschecks laufen, Stoffbeutel und Handschuhe werden herumgereicht. Dann macht einer nach dem anderen einen großen Scherenschritt hinein ins Rote Meer. „Man vergisst so schnell, wie vermüllt der Meeresgrund ist“, hatte Al Madanat am Morgen noch gesagt. Als er und die anderen Freiwilligen nun in die Tiefe tauchen, wird es ihnen wieder schmerzlich bewusst. Im klaren Wasser schwirren Clownfische, Sardinen und Rotfeuerfische um sie herum. Das Rote Meer präsentiert sich als das so oft gepriesene Unterwasserparadies.

Die Clean Up-Taucher:innen schenken all dem kaum Beachtung, ihre Blicke sind fest auf den Müll gerichtet. Zwischen Korallen und Seegras betten sich Joghurtbecher, Getränkedosen und Plastiklöffel. Sogar Wasserkanister und Türklinken finden sie am Meeresgrund. Vorsichtig greifen die Taucher:innen mit ihrem Handschuh nach dem Müll und stecken ihn in ihre Stoffbeutel. Viel zu schnell sei er voll gewesen, sagt Al Sharif, als sie eine halbe Stunde später wieder auftaucht. Den anderen ging es ähnlich.

„Mit jedem einzelnen Tauchgang leisten wir einen wichtigen Beitrag“, sagt Al Sharif. Dauerhaft stoppen könnten sie die Müllflut aber nur von Land aus. Die Clean Up-Aktionen betrachten die „Project Sea“-Gründer als Teil einer viel größeren Mission: Sie wollen Bewusstsein schaffen und zeigen, wie jeder mit scheinbar kleinen Schritten zum Umweltschutz beitragen kann. Oder, wie die beiden es ausdrücken: „Wir wollen Wellen der Veränderung auslösen.“

Bewusster Konsum ist ein Schlagwort, das man im Gespräch mit den beiden immer wieder hört. „Wir ermutigen jeden, Plastikmüll zu recyceln und im besten Fall sogar neue Produkte daraus herzustellen“, sagt Al Sharif. Neben „Project Sea“ leitet die 33-Jährige ein Gemeindezentrum für Geflüchtete aus Palästina. Dort stellen einige Frauen nun Tragetaschen aus recyceltem Plastik her. Für sie und ihre Familien ist es eine neue Einnahmequelle. Und für Al Sharif ein Weg, ihre beiden Herzensprojekte miteinander zu verbinden.

Die Bevölkerung Jordaniens ist eine der jüngsten weltweit. Mehr als 60 Prozent der Einwohner und Einwohnerinnen sind nach Angaben von Unicef jünger als 30 Jahre. Der Jugend gehört die Zukunft – in einem wasserarmen Land, das besonders anfällig für den Klimawandel ist. Al Sharif und Al Madanat wollen die Jugend deshalb so früh wie möglich mit an Bord holen. In den nächsten Monaten wollen sie zum Beispiel ein Kinderbuch veröffentlichen. Auch der Oktopus aus der Getränkedose soll darin einen Auftritt haben.

Zurück an Land sortieren die Müllsammler:innen ihre Fundstücke. Al Madanat und Al Sharif schütten einen Stoffbeutel nach dem anderen aus. Vor ihren Füßen landet ein Meer aus Joghurtbechern, Plastikflaschen und Wasserkanistern. 10 000 Stücke kommen diesmal zusammen. Eine Weile stehen sie vor ihrer Auslese und sagen nichts. Dann fischt Al Madanat ein Plastikherz heraus, von dem ein Stück abgebrochen ist. Es wirkt wie ein Symbol für die Stimmung der Taucher:innen: Beim Müllsammeln hatten sie Erfolg. Viel lieber wäre es ihnen jedoch, wenn die Aktionen gar nicht erst nötig werden.

Zurück
Zurück

Das nächste kleine Ding

Weiter
Weiter

Wadi Al Disah: Unterwegs im Tal der Palmen